Die Evolution des Wohnens

Oona Horx-Strathern ist Trendforscherin und Verfasserin des Home Report. Im Interview mit Design DE LUXE spricht sie über die Strömungen, die unsere Wohnungen, unsere Städte – unser Leben – prägen.

Geben Sie uns einen kleinen Blick hinter die Kulissen – wie erarbeiten Sie die Trends, die schließlich in den Home Report Eingang finden?

(lacht) Wie viel Zeit haben wir? Wir arbeiten seit 25 Jahren mit Trends – im wesentlichen entsteht dabei ein Cocktail aus Erfahrung, Beobachtung, Statistik, Vernetzung und mehr. Es geht uns dabei immer um einen größeren Blick auf die Gesellschaft. Prinzipiell arbeiten wir mit Megatrends, soziodemografischen Strömungen – das sind große gesellschaftliche Kräfte, die mindestens 50 Jahre halten. Diese Trends interagieren natürlich – und dort wo sie sich treffen, entstehen wieder kleinere Trends. Insgesamt gibt es 12 Megatrends – Urbanisierung, Mobilität, New Work, um nur einige zu nennen. Wo etwa Urbanisierung und Mobilität zusammentreffen, entsteht der Trend zur mehr Fahrradfahren. Man kann es sich als eine Evolution vorstellen, aus Trends entstehen Gegentrends und schließlich eine Synthese. Zunehmende Individualisierung beispielsweise sorgt dafür, dass man sich wieder mehr nach Gemeinschaft sehnt – und daraus entstehen dann Individualistische Gemeinschaften, in denen man Mitglied sein kann, ohne seine Individualität aufzugeben.

Sprechen wir über den Home Report – wie hat sich unser Verhältnis zu unserem Zuhause entwickelt?

In den Neunziger Jahren hatten wir den Begriff des Cocooning – der drückte ein Gefühl von Abgrenzung aus, von „ich gegen die Welt“. Man hat sich zurückgezogen in die Sicherheit des eigenen Zuhause. In den letzten Jahren verwenden wir für dieses Sicherheitsbedürfnis eher den dänischen Begriff „hygge“ – dabei geht es um Geborgenheit, aber ohne den Aspekt der Abgrenzung. Vielmehr geht es darum Innen- und Außenwelt in Balance zu bringen.

Wie spielt gerade jetzt auch ein Sicherheitsbedürfnis hier hinein?

Sicherheit kann man auf vielen Ebenen sehen. Die Bedeutung des Zuhauses ist in den letzten zwei Jahren enorm gestiegen. Wir sind aufmerksamer geworden – wir stecken mehr Geld, Liebe, Achtsamkeit in unser Zuhause, um es als sicheren Ort zu gestalten. Das bezieht sich auch auf den Virus – man achtet mehr auf Sauberkeit, viele wünschen sich beispielsweise eine weiße Küche, auf der man Schmutz schnell sieht. Auch auf die Luftqualität achtet man mehr, die Designbranche reagiert darauf beispielsweise mit Luftfiltern, die wie Beistelltische aussehen. Es geht darum, was man innerhalb der eigenen Wohnung kontrollieren kann, Kontrolle gibt das Gefühl von Sicherheit.

Sie sprechen im Report von dem Konzept der Conscious Kitchen – ist das auch ein Aspekt der Achtsamkeit?

Ja natürlich – Achtsamkeit bezieht sich stark auf Ernährung. Gesundheit ist einer der großen Megatrends. In unserem Netzwerk ist auch Ernährungsexpertin Hanni Rützler, die jedes Jahr den Food Report verfasst. Zuletzt war ein großer Aspekt, dass die Menschen – aus der Not heraus natürlich – wieder mehr gekocht haben. Auch junge Menschen kochen viel mehr, achten auf frische Zutaten. Es geht darum, sich Kraft zu holen. Der Food Waste ist stark zurückgegangen, man wirft Essen nicht weg. All das wirkt sich auf die Küche aus. War sie früher der „Back-up Plan“ ist sie heute viel bedeutender. Man ist bereit, mehr Geld in eine praktische, funktionale Küche zu investieren, es gibt ein neues Materialbewusstsein. Man achtet auf Hygiene, Langlebigkeit. Auch der soziale Aspekt der Küche ist wichtiger geworden.

Als einen großen Trend haben Sie Individualisierung erwähnt – wie äußert sich das in unserem Zuhause?

Erinnern Sie sich an die Einrichtungen unserer Großelterngeneration. Damals investierte man in eine Einrichtung fürs Leben – und die sah immer recht ähnlich aus. Jetzt gibt es viel mehr Auswahl: Wir leben in einer Design-Demokratie – jeder kann sich gutes Design leisten. Damit kann man sich viel mehr ausdrücken, entfalten. Auch den Aspekt des Autobiografischen Wohnens finde ich sehr spannend: In unterschiedlichen Lebensphasen richten wir in unterschiedlichen Stilen ein, sammeln über die Jahre Gegenstände und Geschmäcker. Das ist ebenso Teil dieser Individualisierung.

Kommt daher der Trend zu modularen Möbeln?

Es ist ein Faktor. Modulare Möbel können sich an unsere Lebensphasen anpassen, an verschiedene Grundrisse, veränderte Wohnsitze.

Was bedeutet der Begriff „FurNearture“, den Sie im Home Report schildern?

Die Menschen suchen mehr als nur Möbel – sie suchen eine Geschichte. Man ist bereit in Handwerk, in Authentizität zu investieren. Ich habe einen stärkeren emotionalen Bezug zu einem Stück, wenn ich weiß: dieses Holz, dieser Stoff ist aus dem Waldviertel, ich habe das Möbel gemeinsam mit dem Handwerker mit gestaltet. Ein Narrativ gibt eine emotionale Bindung. Gleichzeitig spielt der große Trend zur Nachhaltigkeit hier hinein.

Spielt da auch Soziale Nachhaltigkeit mit?

Sicher – wir sehen jetzt die Bewegung der „Kindness Economy“. Man achtet beim Kauf mehr auf Herkunft, Arbeitsbedingungen und dergleichen. Das wird in Zukunft auch für die Möbelindustrie eine große Herausforderung werden: Transparenz zu schaffen. Es braucht wirklich gute Zertifizierungen, die Vertrauen schaffen. Da gibt es noch viel Handlungsbedarf.

Ein wirklich großer Aspekt wird auch im Möbelbereich die Neo-Ökologie werden: Fast Fashion ist jetzt schon Thema – doch „Fast Furniture“ ist genauso gefährlich. Ansätze wie Cradle-to-cradle Möbel, Recycling, Möbelleasing haben viel Potenzial. Vielleicht kaufe ich keinen Teppich mehr, ich lease ihn – nach 20 Jahren schicke ich ihn zurück und aus dem Material wird ein neuer Teppich. Vegane Möbel, child labour free, circular economy – all diese Konzepte werden große Bedeutung bekommen.

Kreative und farbenfrohe Möbel wie Bombom von Roche Bobois drücken Playfulness aus.

Gab es etwas bei der Recherche des Home Report, das Sie überrascht hat?

Ich denke, die hohe Adaptivität, was das Home Office angeht. Natürlich war das aus der Not heraus und der Pandemie geschuldet. Aber es war überraschend, wie kreativ man hier wurde und wie schnell auch die Möbel- und Designindustrie reagiert hat: mit Caravans, mit modularen Möbeln, mit Schiebetüren und vielem mehr. Man hat versucht, ergonomische Büromöbel für zuhause zu designen. Man könnte auch Anregungen aus der Designwelt nehmen, wie man das Prinzip des Work-Life-Blending umsetzen kann. New Work ist schließlich auch ein Megatrend: Flexibilität und Hybridlösungen werden wichtiger, Firmen werden umdenken. Die Menschen werden in Zukunft vielleicht weniger pendeln, was wieder in die Mobilität hineinspielt. Wir sehen im Moment eine gewissen Stadtflucht, Menschen suchen mehr Platz am Land, da geht es auch um Platz für das Home Office. Vielleicht geht man auch ab und zu in einen Co-Working-Space, im ländlichen Bereich hat das viel Potenzial. Letztendlich geht es um Abwechslung.

Sprechen wir über einen größeren Kontext – sie schildern im Report, wie wichtig der Dorfaspekt in unserem Leben ist. Wie funktioniert das in einer urbanisierten Gesellschaft?

Da sind wir wieder bei den individualistischen Gemeinschaften, die wie zu Anfang schon erwähnt haben. Schon vor der Pandemie gab es einen Trend zu mehr Gemeinschaft, aber ohne die eigene Individualität aufzugeben. Ich möchte mich zurückziehen können, brauche aber auch Unterstützung und Gemeinschaft. Im urbanen Kontext ist das typischerweise ein Co-Living Projekt – es fungiert als Mini-Dorf. Man hat eine gemeinsame Umgebung, gemeinsame Werte, kann aber auch für sich sein. Ein schönes Beispiel gibt es in Wien, es nennt sich Sieben Stock Dorf – es gibt dort ein Food-Coop, Lebensmittelgeschäft, Gemeinschaftsküchen, Terrassen. Trotzdem hat jeder seine eigene Wohnung. Ein sehr spannendes Projekt gibt es im Schwedischen Helsingborg: weil nicht nur unter älteren Menschen, sondern auch bei Jungen, die früh von zuhause ausziehen, die Einsamkeit steigt, hat man das kombiniert. Dort leben nur Menschen unter 25 und über 65. Und ein Teil des Mietvertrages ist, dass man mindestens zwei Stunden pro Woche miteinander verbringt.

Der Aspekt der Playfulness, den Sie im Report ansprechen, ist faszinierend – was steckt dahinter?

Bei der Playfulness geht es darum, Neugierde zu wecken, Gewohnheiten und Muster zu durchbrechen. Yale-Kognitionswissenschaftlerin Lorie Santos sagt: „We need more fun in our lives.“ – und sie hat recht. Schließlich, seien wir ehrlich, waren die letzten beiden Jahre für viele von uns wirklich langweilig. Wir brauchen Anregung. Viele von uns hatten in den letzten Jahren Zeit, Möbel umzustellen, neue Farbe an die Wände zu bringen, zu experimentieren.

In der Einrichtung und Architektur sehen wir mehr spielerische Konzepte, denken wir an Bombom von Roche Bobois, an die Gebäude von Frank Gehry, Zahl Hadid. Natürlich finden das nicht alle schön – aber genau darum geht es: Meinungen zu konfrontieren.

Man sieht es auch in der Stadtplanung, wenn es um Quartiersentwicklung geht: man versucht mehr Differenzierung zu schaffen. Die Idee der 15-Minute-City beispielsweise ist es, dass jeder Bewohner innerhalb von 15 Minuten wichtige Services erreichen kann, alles hat, was er braucht. Man kommt weg von der städtischen Monokultur, schafft mehr Durchmischung. In Schweden gibt es Beispiele, wo auf Plätzen und in Parks kleine Stadtmöbel aufgestellt werden, wo man sich treffen kann. Urban Gardening, Guerilla Gardening – all das sind Wege, die Menschen aus ihrer Wohnung zu holen, mit ihrer Umgebung, ihrer Nachbarschaft in Interaktion zu bringen. Wie kleine Spielplätze für Erwachsene – denn nicht nur Kinder brauchen das Spielerische in ihrem Leben.